Dorsten - WAZ - Der Westen: Behindert im Selbstversuch

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Lebenshilfe Dorsten

Dorsten. Eben über den Südwall spurten, bei der Volksbank eine Überweisung holen: Darüber würde Anton normalerweise nicht nachdenken. Am Mittwoch braucht er eine Viertelstunde, von seinem Mitschüler Nils nur durch Worte gesteuert. Anton hat eine Brille auf, die ihn für diesen Versuch blind macht. „Das war ziemlich abgefahren. Ich wusste nicht wo ich bin, konnte mich gar nicht orientieren“, berichtet er danach.

Der Test ist die Aktion der Lebenshilfe zum „Protesttag zur Gleichstellung von Behinderten“. Thema ist in diesem Jahr die Barrierefreiheit. 25 angehende Heilerziehungspfleger des Berufskollegs (die später mit Behinderten arbeiten wollen) probieren am Vormittag in Zweierteams verschiedene Behinderungen aus: Im Rolli, blind, ohne Arme oder taubstumm sind die Jugendlichen unterwegs. Sie sollten ganz einfache Aufgaben bewältigen. Dabei herausfinden, wie barrierefrei Dorsten ist. Wie andere Menschen auf sie reagieren, erläutert Jennifer Fähnrich vom Lebenshilfecenter.

Fragebögen, von den Kollegschülern ausgefüllt, wertet die Sozialarbeiterin anschließend aus. Ein blauer Brief, so viel war am Donnerstag schon klar, geht an die Stadt. Die Blindenpiepser an einigen Ampeln funktionieren nicht.

Sebastian sitzt im Rollstuhl. „Schon als wir aus dem Lebenshilfecenter kamen, war’s schwierig. Da war eine Minikante. Darauf achten wir als Läufer gar nicht“, erzählt er. Positiv hat er allerdings große Hilfsbereitschaft reagiert. Und erzählt grinsend, dass er schon eine Möglichkeit entdeckt hat, Nutzen aus seiner (vorübergehenden) Behinderung zu ziehen: „Ich bin ja ein Schlawiner. Ich werd’ gleich mal eine hübsche Frau ansprechen. Die kann mich dann mal ein bisschen schieben . . .“ Ist das zu flapsig? Es ist ja nicht echt. Sein Begleiter Konstantin sagt, es sei schwierig, sich die Beine ganz wegzudenken. „Wir können jederzeit wieder aufstehen.“

Anne schiebt Carina im Rolli durch die Stadt. Das Geholper auf dem Pflaster sei unangenehm, sagt Carina. Die Eingänge in Läden seien zwar weitgehend ebenerdig, aber die Gänge in Geschäften oft zu schmal und viele Artikel hängen so hoch, dass sie im Sitzen nicht drankommt. Ihre „Schieberin“ Anne hat darauf geachtet, wie Passanten auf das Gespann gucken. „Mitleidig“, so ihr Eindruck.

Romina und Mandy begleiten Katja und Jaqueline, beide mit Blindenbrille auf der Nase. Sie haben erst ein paar Meter hinter sich. „So schwer haben wir uns das nicht vorgestellt“, sagen sie da schon.

Katharina und Lena haben eine ganz einfache Aufgabe: Ein Paket Zucker kaufen. Aber: Ohne Arme. Die wurden Katharina auf den Rücken gebunden. Mit dem Mund zugreifen? Mit der Schulter in die Tasche um den Hals schubsen? Sie hat schließlich eine alte Dame um Hilfe gebeten. „Das war schon unangenehm“, sagt sie.

An nur einem Vormittag haben die jungen Leute viele Erfahrungen gesammelt, wie schwer ganz leichte Dinge sein können. Wie viele Stolperfallen niemandem bewusst sind, der nicht selbst ein Handicap hat. Anton bringt es schließlich auf den Punkt: „Wir alle können uns glücklich schätzen, nicht behindert zu sein. Denn so den Alltag zu bewältigen, das ist eine Höchstleistung.“


Von Ludger Böhne


http://www.derwesten.de/staedte/dorsten/behindert-im-selbstversuch-id6639740.html

 
 
 
 

Lebenshilfe Dorsten e.V., Barbarastraße 70, 46282 Dorsten